„Mein grauer Archivkittel“. Gegenwartsliteratur und Archiv

Archivwahrnehmung

Vorab-Veröffentlichung eines Ausschnittes aus dem Vortrag von Annett Gröschner, Abschnitt Militärarchiv

Wer das Archiv betritt, gelangt in eine Zeitmaschine, die von Menschen bevölkert wird, denen man in dem Viertel vor dem Bahndamm nie begegnet. Wie kommen sie hierher? Gibt es unterirdische Gänge? Oder leben sie gar in den Katakomben des Hochhauses und kommen nur während der Öffnungszeiten des Besuchersaals ans Licht? Was macht der Mann, den ich wegen seines verwegenen Aussehens für mich den Schwarzwaldschrat nenne und der den ganzen Tag dabei ist, nichts als Listen von U-Bootbesatzungen zu studieren und handschriftlich in ein großes Buch zu übertragen, wenn er nicht hier ist?

In den Akten herrscht der Gott des Gemetzels. Scharmützel, Erschießungen, Enthauptungen, Scharfschützen, Panzer und Geschosse, Schießbefehle. Jeder Tisch ist blutgetränkt, auch wenn die Akten alles grau machen – die Tische, die Stühle, den Fußboden und die Gesichter der Menschen, die man hier Benutzer nennt und die manchmal komplett zwischen den Aktenbergen verschwinden, als könnten sie sich dem ganzen Grauen so entziehen.

Annett Gröschner

Anm. der Redaktion: Zur Berliner Autorin Annett Gröschner siehe ihre Website, zum Projekt „Inventarisierung der Macht. Die Berliner Mauer aus anderer Sicht“ (unter Nutzung von Akten aus dem Militärischen Zwischenarchiv des Bundesarchivs) die Projektwebsite.

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